Wir brauchen eine Wirtschaftswende.

Christian Lindner Wirtschaftswende
Neue Westfälische

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Herr Lindner, Sie haben mit Aussagen über atomare Abschreckung in Europa aufhorchen lassen. Was meinen Sie genau? Soll Deutschland über eigene atomare Sprengkörper nachdenken?

Lindner: Nein. Aber die Friedens- und Freiheitsordnung in Europa ist durch Russland bedroht. Wir sind nicht zurückgefallen hinter das Jahr 1989, sondern hinter das Jahr 1970 – denn zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wird der Versuch unternommen, mit militärischer Gewalt politische Grenzen zu verschieben. Deshalb ertüchtigen wir die Bundeswehr. Leider hat auch die nukleare Abschreckung eine neue Aktualität. Zentral und unverzichtbar bleiben für uns hier die USA. Wir sollten ergänzend unter dem Dach der Nato unsere eigenen europäischen Möglichkeiten stärken. Damit zeigen wir Verantwortungsbewusstsein gegenüber den USA, die an vielen Stellen auf der Welt engagiert sein müssen.

Was heißt das konkret?

Lindner: Eine Weiterverbreitung von Nuklearwaffen muss verhindert werden. Eigene Kernwaffen der EU sind ebenfalls unrealistisch. Aber unsere Verbündeten Frankreich und Großbritannien verfügen über die Fähigkeit zur strategischen Abschreckung. Präsident Emmanuel Macron hat wiederholt ein Gesprächsangebot unterbreitet, wie diese europäische Säule der Nato gestärkt werden könnte. Ich rate dazu, dieses Angebot anzunehmen.

Hat Deutschland genug Geld, um in diese neue Friedensordnung zu finanzieren?

Lindner: Ja, wir sind ein starkes Land. Aber wir werden das 2-Prozent-Ziel der Nato nicht ohne Vorbereitung finanzieren können, wenn spätestens 2028 das Sonderprogramm für die Bundeswehr im Grundgesetz ausgelaufen ist. Wir brauchen Anlauf. Wir müssen jetzt erstens erreichen, dass unsere Wirtschaft wieder einen Aufschwung erlebt. Ein Aufschwung stellt auch dem Staat neue Mittel zur Verfügung. Wenn wir diese neuen Mittel zweitens nicht sofort wieder verplanen für zusätzliche Umverteilung und Subventionen, sondern für Investitionen in Frieden und Freiheit, dann wird das gelingen.

Rechnen Sie mit solch einem neuen Wirtschaftsaufschwung?

Lindner: Den Aufschwung müssen wir uns erarbeiten. Deutschland hat viele Jahre profitiert vom niedrigen Zins, der Nachfrage auf den Weltmärkten und von günstigen Energieimporten aus Russland. Die Lage ist heute fundamental anders. Das hat über Jahre strukturellen Schwächen unseres Wirtschaftsstandorts verdeckt. Wir brauchen eine Wirtschaftswende. Weg vom Verteilen. Hin zum Erwirtschaften. Wir müssen alles tun, was die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum wieder stärkt, und alles unterlassen, was Dynamik kostet.

Wen adressieren Sie mit diesen Worten? Die eigene Koalition?

Lindner: Auch. Um es klar zu sagen, die von der FDP mitgetragene Regierung hat schon einige Wachstumsbremsen gelöst. Zum Jahresanfang gab es die Senkung der Einkommen- und Stromsteuer. Jetzt könnte das Auslaufen des Solidaritätszuschlags für die Betriebe einen weiteren Impuls setzen. Die Bürokratielast steigt nicht mehr, sondern sinkt. Aber es geht noch mehr. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz helfen wir dem Arbeitsmarkt. Aber wir müssen Bürgergeldbezieher durch eine fordernde Arbeitsmarktpolitik besser mobilisieren. Wir investieren in Straße, Schiene und digitale Netze auf Rekordniveau. Aber die Ambitionen reichen noch nicht, um die langjährige Vernachlässigung zu beseitigen. Eine Wirtschaftswende ist übrigens nicht nur für das Wachstum vernünftig, sondern auch politisch. Bill Clintons Spruch „It’s the economy, stupid“ wird noch nicht überall verinnerlicht. Wenn die Leute vom Facharbeiter bis zur Führungskraft das Gefühl haben, wirtschaftlich nicht mehr voranzukommen, dann suchen sie sich politische Alternativen. Mein Rat an die Koalition ist daher, das Relativieren eigener Erfolge einzustellen und gemeinsam darauf aufbauend eine Wirtschaftswende zu erarbeiten.

Die FDP macht alles richtig und die anderen alles falsch. Sie sind ein bisschen in Jammer-Stimmung, oder?

Lindner: So etwas würde ich nie sagen. Aber es ist offensichtlich, dass die FDP aus der Koalition dafür kritisiert wird, dass wir auf der Einhaltung des Koalitionsvertrags bestehen.

Sie haben jetzt auch beim EU-Lieferkettengesetz für Aufregung gesorgt, welches den Schutz von Menschenrechten in den jeweiligen Produktionsländern vorsieht. Das Thema war doch eigentlich in Europa längst geregelt und vom Tisch . . .

Lindner: Das ist eine falsche Erzählung, die verbreitet wird. Die Bundesregierung hat beschlossen, unter welchen Bedingungen sie zustimmen würde. Diese Bedingungen wurden nicht erfüllt. Das war seit Monaten absehbar. Jetzt wird Druck auf die FDP-Minister ausgeübt, dennoch grünes Licht zu geben. Das wäre falsch. Die Pläne von Frau von der Leyen sind schädlich für den Mittelstand und die Industrie. Die Pläne sind auch nicht gut für Menschenrechte und globale Umweltstandards. Denn im Ergebnis könnten europäische Firmen Investitionen in Schwellen- und Entwicklungsländern meiden. Das sieht nicht nur die FDP so, sondern viele Regierungen in Europa.

Wirtschaftsvertreter aus OWL sagen: Es gibt ein deutsches Lieferkettengesetz, während andere Staaten das nicht haben. So hätte es wenigstens ein einheitliches Gesetz in der EU gegeben.

Lindner: Die Verbände der deutschen Wirtschaft sind unisono dagegen. Den Hinweis auf das deutsche Lieferkettengesetz kenne ich auch von SPD und Grünen. Das überzeugt mich deshalb nicht, weil wir dieses verunglückte Groko-Gesetz ja ändern können. Wir sollten es umgehend praxistauglich machen. Die Pläne für ein EU-weites Lieferkettengesetz müssen zurück in die Montagehalle.

Im Juni wird in Europa gewählt. Ist die Europawahl diesmal wichtiger als sonst?

Lindner: Ja. Es gibt Kräfte, die leichtfertig das europäische Einigungsprojekt zerstören wollen. Es wird zum Beispiel über einen Austritt Deutschlands aus der EU schwadroniert. Das würde unser Land politisch isolieren und wirtschaftlich ruinieren. Dagegen wäre der Brexit nichts, weil wir in unseren Binnenmarkt viel stärker eingebunden sind. Ich sehe andererseits mit Sorge, dass mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine CDU-Politikerin aus dem faszinierenden Freiheitsprojekt EU eine Bürokratie-Drohung gemacht hat. Es kommt viel überflüssige, teure und fesselnde Bürokratie aus Brüssel. Diese Politik darf nicht fortgesetzt werden. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass es im nächsten EU-Parlament nicht zu einer völligen Blockade kommt, weil Populisten zu stark werden.

Welche Rolle spielt dabei die Migrationspolitik?

Lindner: Die Erwartungen der Menschen sind klar: Weltoffenheit und Solidarität müssen verbunden sein mit der Kontrolle des Zugangs in unser Land. Seit 2015 werbe ich für eine Realpolitik in der Einwanderung. Jetzt gibt es eine Zäsur zur Politik der Ära Merkel: Wir bekommen endlich Schutz der europäischen Außengrenzen, in Deutschland Abschiebegewahrsam, sichere Herkunftsländer für schnelle Asylverfahren, die Reduzierung des Asylbewerberleitungsgesetzes und zum Beispiel das Einführen einer Bezahlkarte für Asylbewerber. Das ist zentral, um die Anziehungskraft des deutschen Sozialsystems zu reduzieren. Mich überzeugt daher nicht, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung gerade das Instrument Bezahlkarte nicht stärker forciert.

Führen diese Maßnahmen bereits zu Veränderungen?

Lindner: Es braucht Zeit, bis sie greifen. Es geht nun darum, diese Wende bei der Migration konsequent umzusetzen. Wir arbeiten auch an Verbesserungen bei den Rückführungsabkommen. Wir als FDP können uns auch vorstellen, noch mehr Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Insgesamt aber verändert sich die Politik grundlegend gegenüber der Zeit von Frau Merkel.

Wie blicken Sie als Parteichef auf die AfD?

Lindner: Mich besorgt, dass die Grenze zwischen Rechtsextremismus und konservativen Ansätzen und der bürgerlichen Mitte teilweise verschwimmt. Das ist eine große Gefahr. Hier muss das Immunsystem unserer Gesellschaft und das der bürgerlichen Mitte funktionieren. Man kann konservative Ansichten haben, aber die bürgerliche Mitte selbst muss erkennen, dass die AfD keine andere Politik will, sondern ein anderes System – ein abgeschottetes Land mit einem autoritären Staat, das durch den Rückzug von der Welt verarmt.

Ist die Demokratie ähnlich bedroht wie 1928? Oder ist sie heute stabiler?

Lindner: Die Analogie trifft nicht zu. Aber der historische Vergleich lässt uns wachsam sein.

Wie wahrscheinlich ist es für Sie, dass es in diesem Jahr noch eine Lösung bei den Altschulden in NRW geben wird?

Lindner: Das NRW-Modell hat mich nicht überzeugt, weil dort nicht das Land eingetreten ist, sondern weil es eine Umverteilung unter den Städten und Gemeinden vorsieht. Das kann nicht sinnvoll sein. Dennoch ist die Bundesregierung unverändert bereit, an einer Lösung zu arbeiten. Eine Voraussetzung ist, dass die Unionsbundestagsfraktion mitwirkt, weil wir ja eine Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung brauchen. Es könnten auch nur betroffene Länder wie NRW Mittel erhalten. Die anderen Länder müssten also zustimmen, ohne dass es Geldmittel dafür gibt. Mit Blick auf Markus Söder sind gegenwärtig Zweifel anzumelden, ob das gelingt. Drittens: Es muss eine Form einer kommunalen Schuldenbremse geben, damit sich die Verschuldung in Zukunft nicht wiederholt. Die Gespräche werden weitergeführt, aber es gibt noch Unsicherheit.

Ist eine Altschuldenlösung bis Ende diesen Jahres also vom Tisch?

Lindner: Das ist möglich, aber nicht sicher.