Unsere Wirtschaft hat Substanz, aber die Rahmenbedingungen stimmen nicht mehr.

Christian Lindner Wirtschaftswende
Redaktionsnetzwerk Deutschland

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Herr Lindner, die FDP fordert eine Wirtschaftswende. Das hat sie als Regierungspartei schon einmal gemacht – 1982. Der SPD-Kanzler Helmut Schmidt wurde über ein Misstrauensvotum gestürzt und gegen Helmut Kohl von der CDU getauscht. Wie viel Lust haben Sie auf einen Kanzler Friedrich Merz?

Lindner: Der geschichtliche Vergleich trifft nicht. Es geht um unser Land, nicht um Personen oder Koalitionen. Wenn wir von Wende sprechen, dann meinen wir die wirtschaftliche Entwicklung. Zwischen 2014 und 2024 ist Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich von Platz 6 auf Platz 22 zurückgefallen. In dieser Zeit haben überwiegend Union und SPD zusammen regiert. Beide tragen Verantwortung für den Modernisierungsstau. Deshalb sollte die CDU im Bundesrat auch Reformen nicht ständig so blockieren wie das Wachstumschancengesetz.

Die FDP nährt immer wieder Zweifel am Fortbestand der Koalition – zuletzt hat Verkehrsminister Volker Wissing mit deren Ende gedroht. Auch Generalsekretär Bijan Djir-Sarai spielt immer wieder mit der Möglichkeit eines Bruchs, in dem er die Einigungsfähigkeit infrage stellt. Was soll das?

Lindner: Ihre Wahrnehmung ist falsch. Die ganze FDP setzt auf die Einigung auf eine Wirtschaftswende. Denn SPD und Grüne werden erkennen, dass soziale und ökologische Vorhaben ohne starke Wirtschaft nicht realisiert werden können.

Bundeskanzler Olaf Scholz sagt zum Thema Wirtschaftslage gerne: „Die Klage ist das Lied des Kaufmanns“. Die Wirtschaftsverbände beschweren sich, dass der Kanzler den Ernst der wirtschaftlichen Lage nicht erkannt hat. Wer hat recht?

Lindner: Beide. Der Kanzler hat Recht, dass wir die Angebotsbedingungen durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, ersten Bürokratieabbau, steuerliche Anreize für Investitionen bereits verbessert haben. Aber die Wirtschaftsverbände sagen zutreffenderweise, dass wir mehr tun müssen. Das längerfristige Wachstumspotenzial Deutschlands ist von 1,5 Prozent auf 0,5 Prozent gefallen. Zum Vergleich: In den USA liegt es schätzungsweise bei 1,9 Prozent. Unsere Wirtschaft hat zweifellos Substanz. Aber die Rahmenbedingungen Arbeitsmarkt, Bürokratie, Energie, Steuer und Digitalisierung stimmen nicht mehr.

Und der Kanzler erkennt diese Lage nicht?

Lindner: Sollten der Kanzler und ich irgendwann unterschiedlicher Meinung sein, besprechen wir das persönlich.

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich nennt das FDP-Papier ein „Überbleibsel aus der Mottenkiste“.

Lindner: Wie qualifiziert dieser Debattenbeitrag ist, können die Bürgerinnen und Bürger ohne Kommentar von mir beurteilen.

Nach FDP-Vorstellung soll das Programm für eine Wirtschaftswende im Sommer beschlossen werden. Wie viel Überzeugungsarbeit müssen Sie da bei SPD und Grünen noch leisten?

Lindner: Die öffentlichen Reaktionen auf unsere Vorschläge zeigen, dass es kein Selbstläufer wird. Ich erhoffe mir aber, dass es eine ernsthafte Debatte um die Zukunft von sozialer Sicherheit und Arbeit wird. Gegenvorschläge sind willkommen, aber niemand wird durch Schulden oder Wunschdenken der Realität entfliehen können, dass Wohlstand erarbeitet werden muss. Manchmal könnte es sinnvoll sein, einfach einmal im Handwerksbetrieb nebenan zuzuhören.

Was passiert, wenn sich die Koalition nicht auf ein Wirtschaftsprogramm einigen kann?

Lindner: Angesichts der wirtschaftlichen Lage ist das für mich unvorstellbar. Eine Wirtschaftswende ist nicht nur nötig, um den Staat zu finanzieren und in der Geopolitik ernst genommen zu werden. Sie ist auch nötig, weil der demokratische Zusammenhalt gefährdet wird, wenn Menschen um ihre wirtschaftliche Zukunft fürchten.

Ihre Vorschläge beinhalten die Streichung des restlichen Solidaritätszuschlags, den nur noch die zehn Prozent mit den höchsten Einkommen zahlen. Damit würden dem Staat Einnahmen in Höhe von zwölf Milliarden Euro im Jahr fehlen. Gleichzeitig wollen Sie bei den Ärmeren sparen, indem Sie die Bedingungen für den Bezug von Bürgergeld verschärfen. Ist das sozial gerecht?

Lindner: Ja, bitte denken Sie vom Ziel. Wir brauchen sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze. Dafür müssen sich Investitionen in Deutschland lohnen. Den Solidaritätszuschlag zahlt in Deutschland vor allem die Wirtschaft, von Handwerk bis zur Industrie. Deshalb setzen wir da an. Umgekehrt wird es doch als Ungerechtigkeit wahrgenommen, wenn Menschen Bürgergeld beziehen, obwohl sie Arbeit angeboten bekommen haben. Es geht doch nicht um Bedürftige und Schwache, sondern um Anreize für diejenigen, die könnten.

Ihre FDP will Bürgergeld-Empfängern, die eine angebotene Arbeit ablehnen, 30 Prozent der Leistungen streichen und die Zumutbarkeitsregeln verschärfen. Schon jetzt gilt: Zumutbare Jobs müssen angenommen werden. Was wollen Sie konkret ändern?

Lindner: Die Zumutbarkeit ist durch die Bürgergeldreform gelockert worden…

… Sie meinen die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Ziel war, dass Arbeitslose nicht in einen Kurzzeitjob nach dem nächsten geschickt werden, sondern sich qualifizieren können.

Lindner: Unter anderem. Jedenfalls ist eine fordernde Arbeitsmarktpolitik ratsam.

Ausländische Fachkräfte wollen Sie mit Steuernachlässen bei der Einkommensteuer ins Land locken. Ist die FDP nicht eigentlich gegen Steuersubventionen?

Lindner: Ja, Mitnahmeeffekte lehnen wir ab. Aber Anreize wie steuerliche Forschungsförderung und Investitionsförderung durch Abschreibungen finde ich gut. Darum geht es auch hier. Für Hochqualifizierte ist Deutschland nicht attraktiv. Hohe Steuern und Sozialabgaben, schlechte Schulen und eine schlechte öffentliche Infrastruktur wirken abschreckend. Dazu kommt noch die Sprachbarriere. Wir müssen da überall ran. Aber ich rate auch zu innovativen Ansätzen. In den ersten drei Jahren nach der Aufnahme einer Tätigkeit in Deutschland könnte ein Steuerfreibetrag sinnvoll sein, der Umzugskosten, Kosten der Ausbildung im Ausland und andere Nachteile relativiert.

Wie bauen Sie da einer Neid- und Ausländerdebatte vor?

Lindner: Ungeordnete Einwanderung in das Sozialsystem erregt die Gemüter. Deshalb gehen wir entschieden dagegen vor. Für die Einwanderung von Fachkräften gibt es Verständnis. Denn jede nicht erledigte Arbeit, jeder nicht angenommene Auftrag kostet uns Wachstum. Jeder profitiert also davon, wenn hochqualifizierte und gut bezahlte Menschen nach Deutschland kommen, denn die zahlen Steuern und schieben die Wirtschaft an. Ich ziehe ein dynamisches Land, das unkonventionelle Wege geht, einem stagnierenden Land vor, das nichts mehr wagt.

Lassen Sie uns auf die Familienpolitik schauen. Im Jahressteuergesetz fehlt bisher die von Ihnen angekündigte Erhöhung des Grund- und des Kinderfreibetrags. Grüne und SPD fordern, gleichzeitig auch noch das Kindergeld zu erhöhen. Wie lässt sich der Streit lösen?

Lindner: Grund- und Kinderfreibetrag müssen aus verfassungsrechtlichen Gründen erhöht werden. Leider wird das bisher von SPD und Grünen blockiert. Das Kindergeld wurde bereits 2023 sehr stark und überproportional erhöht, um Familien zu entlasten. Das war ein großer Erfolg. Deshalb steht aber erst 2025 die nächste Erhöhung an.

Um wie viel?

Lindner: Für die genaue Höhe müssen wir den Existenzminimumbericht im Herbst abwarten. Zusammen mit einer Kindergelderhöhung wird es 2025 auch eine weitere Anhebung des Grundfreibetrags und des Kinderfreibetrags in der Lohn- und Einkommensteuer geben. Für alle, füge ich mit Blick auf Äußerungen aus der Koalition hinzu. Die FDP wird nicht akzeptieren, dass Fach- und Führungskräfte einer heimlichen Steuererhöhung unterzogen werden. Fairness muss es auch gegenüber jenen geben, die massiv von ihrem Einkommen abgeben.

Welche Entlastungssumme schwebt Ihnen beim Ausgleich der kalten Progression vor?

Lindner: Ein einstelliger Milliardenbetrag für den Gesamtstaat.

Sie haben vorgeschlagen, die Tilgung der Corona-Schulden ab 2028 zu strecken, um Spielräume für den Verteidigungshaushalt zu erhalten. Der Bundesrechnungshof lehnt das strikt ab, weil  Belastungen auf kommende Generationen verlagert würden. Eigentlich eine FDP-Argumentation, oder?

Lindner: Nein, das Gegenteil ist richtig. Die pandemiebedingten Notlagenkredite haben dazu geführt, dass die Schuldenquote von gut 59 Prozent auf 69 Prozent gestiegen ist. Seit meinem Amtsantritt sind wir auf unter 64 Prozent gekommen. Mit Disziplin und wirtschaftlichem Erfolg werden wir voraussichtlich 2028 wieder bei unter 60 Prozent landen. Die Pandemieverschuldung wird also aus der Schuldenquote herausgewachsen sein. Dann wäre es ökonomisch unklug, uns aufgrund übermäßiger Tilgung Spielräume für Investitionen in Bildung, Digitalisierung oder Bundeswehr zu nehmen.

Im Haushalt 2025 fehlen noch Milliarden. Muss am Ende wieder eine Dreierrunde aus Ihnen, Scholz und Vizekanzler Robert Habeck ran?

Lindner: Das ist schon so bekannt gegeben worden. Denn wir müssen strategische Maßnahmen beraten, die weit über einen Jahresetat hinausgehen.

Wie verhindern Sie, dass daraus wieder wochenlange Beratungen werden, wie bei der letzten Runde im Dezember?

Lindner: Ich habe nicht in der Hand, wie lange andere brauchen, um die Realität anzuerkennen. Wer also wieder den Versuch unternehmen will, den Finanzminister weich zu kochen, dass er am Ende doch Steuererhöhungen zustimmt, mag es tun.

Der Krieg gegen die Ukraine, die Krise in Nahost sind enorme Herausforderungen. Dazu kommt die Bekämpfung von Migrationsursachen. Ist es da angebracht, in der Außen- und Entwicklungspolitik zu kürzen - oder müsste man hier nicht eher etwas drauflegen?

Lindner: In unsere internationale Verantwortung investieren wir wesentlich mehr als die Vorgängerregierung. Dazu zähle ich auch die Mittel für die Ukraine. Insgesamt gilt es, die Zielgenauigkeit zu verbessern. Nur edle Motive allein zählen nicht, gegenüber den Steuerzahlerinnen und Steuerzahler muss genau dargelegt werden, warum und was es gebracht hat. Wenn ich am Kabinettstisch manchmal die Kolleginnen und Kollegen betrachte, denke ich: „Der einzige Vertreter der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hier, das bin ich.“

Die Ministerkolleginnen und Kollegen schmeißen ihrer Meinung nach ohne Sinn und Verstand das Geld aus dem Fenster?

Lindner: Nein. Aber bei jedem Euro frage ich mich, ob er besser in der Hand des Staates oder der Hand der Bürger aufgehoben wäre.

Sie schlagen in Ihrem Wirtschaftspaket auch vor, das deutsche Lieferkettengesetz auszusetzen, bis es eine europäische Regelung gibt. Das wird aber noch dauern. Sind Ihnen faire Arbeitsbedingungen und der Umweltschutz im Ausland egal?

Lindner: Nein, aber ich teile das Misstrauen gegenüber der deutschen Industrie und unseren Familienunternehmen nicht, dass diese im Ausland zu unakzeptablen Bedingungen produzieren würden. Aber sie können eben nicht für alle Lieferanten und Vorlieferanten und Vorvorlieferanten Verantwortung übernehmen. Das Gesetz bringt enorme Dokumentationspflichten und Bürokratie mit sich. Die Folge ist das Gegenteil dessen, was seine Initiatoren beabsichtigt haben. Es werden sich Unternehmen aus dem Ausland zurückziehen, weil sie die Reputationsrisiken und bürokratischen Kosten nicht auf sich nehmen wollen. Deutschland muss es sich ja nicht immer extra schwer machen.

Es gibt auch Unternehmen, wie zum Beispiel Tchibo, die das Lieferkettengesetz sehr gut finden und darin einen Wettbewerbsvorteil sehen.

Lindner: Niemand hält ein Unternehmen davon ab, auch ohne gesetzliche Regelung einen solchen Prozess vorzunehmen. Dann können die Verbraucherinnen und Verbraucher das beurteilen.

Deutschland wäre gar nicht so allein mit einem Gesetz. In anderen EU-Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden gibt es Ähnliches.

Lindner: Tatsächlich ist die gesamte Europäische Union nicht mehr ein Garant von Wirtschaftsstärke. Und innerhalb der EU ist Deutschland Schlusslicht. Zeit zur Umkehr für alle 27.

Vor einigen Tagen ist noch ein ganz anderes Thema wieder hochgekommen: Eine von der Regierung beauftragte Expertenkommission hat unter anderem empfohlen, Schwangerschaftsabbrüche in den ersten Wochen zu entkriminalisieren. Sollte die Koalition das umsetzen?

Lindner: Wir haben einen stabilen, funktionierenden gesellschaftlichen Konsens bei der Frage des legalen Schwangerschaftsabbruchs. Ist eine potenziell verletzende Debatte sinnvoll, die uns auf mittlere Sicht vielleicht sogar zurückwirft? In anderen westlichen Demokratien wie den USA haben wir gesehen, dass plötzlich auch diejenigen massiv aufgetreten sind, die mehr Einschränkungen wollen. Daher finde ich: Wenn man einen stabilen gesellschaftlichen Konsens hat, sollte man ihn nicht ohne Not aufgeben.

Aber die Ampel hätte eine Mehrheit.

Lindner: Der Konsens beim Paragrafen 218 hat über Jahrzehnte und unterschiedliche Mehrheiten hinweg Bestand gehabt. Er wird auch noch mal so lange halten. Bei einer Neuregelung bin ich unsicher, ob sie ebenfalls über eine so lange Zeit das ganze politische Spektrum einbinden könnte.

Wir befinden uns in einem Wahljahr, mit der Europawahl, diversen Kommunalwahlen, drei ostdeutschen Landtagswahlen. In der FDP wird die Europawahl besonders hervorgehoben. Was ist für Sie das Erfolgskriterium?

Lindner: Für uns ist ein starkes Ergebnis wichtig, das uns erlaubt, im Parlament eine starke Rolle für Freiheit und deutsche Interessen zu spielen. Das ist erforderlich, denn auf der einen Seite haben wir die AfD, die die EU zerstören möchte und damit eine Gefahr für das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes ist. Und auf der anderen Seite haben wir eine EU-Kommission unter Leitung von Ursula von der Leyen, die viele Fehlentscheidungen zu verantworten hat - von Gemeinschaftsschulden über Technologieverbote beim Auto und eine außer Kontrolle geratene Bürokratie.

Das heißt, Sie würden der Bundesregierung nicht raten, Ursula von der Leyen als Vertreterin Deutschlands nach der Wahl dabei zu unterstützen, Kommissionspräsidentin zu werden?

Lindner: Es ist völlig offen, ob sich diese Frage überhaupt stellt. Klar ist nur eines: Frau von der Leyen hat nicht als Deutsche gewirkt, sondern als eine Grüne. Für den Wirtschafts- und Technologiestandort Europa waren es verlorene Jahre.

Und was heißt das eigentlich, ein starkes Ergebnis für die FDP?

Lindner: Besser als beim letzten Mal.