Staatliche Gelder sind kein Allheilmittel.

Christian Lindner Wirtschaftsstandort
Handelsjournal

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Was nun, Herr Lindner, da das Bundesverfassungsgericht ein Loch von 60 Milliarden Euro in Ihren Haushalt gerissen hat: Wird die Bundesregierung für 2023 und 2024 wieder eine haushaltspolitische Notlage ausrufen?

Lindner: Für das Jahr 2023 hat die Bundesregierung unmittelbar die notwendigen Konsequenzen gezogen und einen Nachtragshaushalt vorgelegt. Es werden keine zusätzlichen Schulden aufgenommen, aber bereits in diesem Jahr getätigte Ausgaben im Lichte des Urteils abgesichert. Die Aufgabe für die kommenden Haushaltsjahre auch über 2024 hinaus ist weitaus größer. Unsere Staatsfinanzen müssen langfristig tragfähig sein, dafür müssen wir sie grundlegend neu ordnen. Erneut eine Notlage auch für das kommende Jahr zu erklären, mag manchen als einfacher Ausweg erscheinen. Es wäre aber nicht die richtige Konsequenz aus dem Urteil.

Herr Genth, wie dramatisch schätzen Sie die Folgen des Karlsruher Urteils für die Wirtschaft ein? Und was erwarten Sie von der Bundesregierung: Sparen, Steuern erhöhen – oder trotz allem den Umbau des Wirtschaftsstandorts aus neuen Sonderfonds stemmen?

Genth: Natürlich ist das eine dramatische Lage. Es entsteht zusätzliche Unsicherheit. Und das in einer Situation, in der ohnehin schon viele Verbraucherinnen und Verbraucher verunsichert sind und ihr Geld eher zusammenhalten. Für den Konsum und den Einzelhandel ist das keine gute Situation. Aus Sicht des Einzelhandels wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich noch ambitionierter von teurer Bürokratie und Überregulierung zu verabschieden. Da liegen auch auf der Seite der Verwaltungen Einsparpotenziale. Auf der anderen Seite sollte man auf keinen Fall bei Investitionsförderungen sparen, die Wirtschaft braucht diesen Anschub und die Unterstützung jetzt, auch für den Einzelhandel. Ansonsten wird es rasch noch teurer.

Herr Lindner, wagen wir einen Ausblick auf das kommende Jahr: Wie wird sich die ökonomische Situation in Deutschland entwickeln?

Lindner: Wir verzeichnen in Deutschland unverändert eine Wachstumsschwäche. Das hat konjunkturelle Gründe, die aus den Störungen auf den internationalen Märkten resultieren. Es hat aber auch strukturelle Gründe, weil uns zum Beispiel Fach und Arbeitskräfte fehlen. Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass wir im nächsten Jahr eine nochmalige Veränderung im Lohn- und Einkommenssteuerrecht vornehmen müssen, um die Kaufkraft über die ganze Breite unserer Gesellschaft zu stärken. Darum werden wir den steuerfreien Grundbetrag und den Kinderfreibetrag anpassen. Dafür ist bereits Vorsorge im Haushaltsentwurf 2024 getroffen. Für mich ist das eine Frage der Gerechtigkeit. Wir können nicht auf der einen Seite das Bürgergeld an die Inflation anpassen und auf der anderen Seite die Steuerlast für die Lohnarbeiter und den Mittelstand unverändert lassen.

Herr Genth, teilen Sie, die Einzelhandelsbranche betreffend, die wirtschaftliche Einschätzung des Finanzministers für 2024?

Genth: Die Binnennachfrage war selbst im Exportland Deutschland immer Stütze der Konjunktur. Deshalb leidet die Wirtschaft insgesamt unter dem durch die geopolitischen Krisen hervorgerufenen Unsicherheitsgefühl der Verbraucher, das zu der aktuell zu beobachtenden Kaufzurückhaltung führt. Hinzu kommen objektive Gründe wie die Inflationsentwicklung, insbesondere die Kostensteigerungen bei Energie und Lebensmitteln. Daher ist es richtig, die normal arbeitende Bevölkerung steuerlich zu entlasten. Was die Einschätzung des nächsten Jahres angeht, so hoffen wir sehr, dass die objektiven Rahmendaten besser werden. Wir erwarten keine großen Sprünge, aber zumindest eine Normalisierung.

Lindner: Zwei Punkte, die Herr Genth angesprochen hat, möchte ich gern verstärken: Zum einen werden wir in Deutschland eine bessere Konsumstimmung haben, sobald das Land auf den Wachstumspfad zurückkehrt. Deshalb haben wir eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um Prosperität zu stimulieren. So setzt das Wachstumschancengesetz Anreize für zusätzliche Investitionen, Forschungsvorhaben und die Stärkung des Eigenkapitals. Zusätzlich für Wachstum sorgen werden die Rekordinvestitionen aus den öffentlichen Haushalten. Ebenso positive Effekte auf das Kaufverhalten werden sich zeigen, wenn es uns gelingt, die Geldwertstabilität wiederherzustellen. Wesentlich dazu beitragen wird unsere moderat restriktive Finanzpolitik.

Gern würde ich noch einen Blick auf das laufende Jahr werfen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für 2023 einen Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung um 0,5 Prozent. Damit ist die Bundesrepublik der einzige G7 Industriestaat, dessen Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen wird. Warum hinken wir hinterher?

Lindner: Wir sind ein stark exportorientiertes Land. Das heißt, der Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt nach unseren Produkten wirkt sich aus. Zudem waren wir stark belastet durch gestiegene Energiepreise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Das sind Sonderfaktoren, an denen wir strukturell arbeiten. Wie schon erwähnt, setzen wir jetzt steuerliche Impulse, damit die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt. Weitere angebotsseitige Maßnahmen zur Stärkung des Wachstums kommen hinzu. Dazu zählen insbesondere unsere Bemühungen, den Bürokratieabbau voranzutreiben. Zudem arbeiten wir an der Stärkung der Facharbeiter- und Arbeitskräftegewinnung durch eine veränderte Einwanderungspolitik. Wir haben es viel zu lange denen leicht gemacht, in Deutschland zu bleiben, die illegal in den Sozialstaat eingewandert sind. Und viel zu lange haben wir es denen schwer gemacht, zu uns zu kommen, die wir als qualifizierte Arbeitskräfte in unseren Betrieben brauchen. Das kehren wir jetzt um.

Die Verhandlungen über Migrationsabkommen mit einigen nordafrikanischen Staaten verlaufen eher schleppend. Welche Motivation sollten diese Länder haben, ihre wenigen qualifizierten Kräfte an Deutschland abzutreten und stattdessen unqualifizierte Menschen wieder zurückzunehmen, die in Deutschland straffällig geworden sind?

Lindner: Wir handeln in vielfältige Richtungen. Migrationsabkommen sind lediglich ein Bestandteil unserer diversen Maßnahmen. Illegale Migration stoppen wir vor allen Dingen dadurch, dass wir staatliche Leistungen für Asylbewerber reduzieren, Asylverfahren bereits an den europäischen Außengrenzen abhalten und keine Sekundärmigration in Europa erlauben. Die Vereinbarung von Migrationsabkommen gehört ebenfalls zum Maßnahmenpaket. Dabei geht es um ein Geben und Nehmen: mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit, Visaerleichterungen für Geschäftsleute und Studierende einerseits, andererseits Übernahme der Verantwortung für illegal nach Deutschland eingereiste eigene Staatsangehörige. Das ist ein faires Paket, weil es Vorteile und Verantwortung verbindet.

Herr Genth, kommen wir zurück zum Handel. Wiederum der IWF prognostiziert für das Jahr 2023 für Deutschland eine durchschnittliche Inflationsrate von rund 6,32 Prozent, 2024 sollen es 3,0 Prozent sein. Preistreiber sind momentan vor allem die Lebensmittel. Handel und Industrie schieben sich gegenseitig die Schuld an den Preiserhöhungen zu, die Preisverhandlungen eskalieren, es gibt Auslistungen. Wie wird sich die Situation im kommenden Jahr entwickeln?

Genth: In der Tat waren im Jahr 2023 Lebensmittel die wesentlichen Preistreiber. Wobei es vor allem die hohen Energiekosten infolge des Ukrainekriegs waren, die für die Preisentwicklungen in den Produktions- und Kühlketten gesorgt haben. Zugleich sehen wir, dass große internationale Lebensmittelkonzerne versuchen, das Preisniveau in Deutschland hochzutreiben. Um die hohe Preissensibilität deutscher Kunden wissend, hat der Handel die Forderungen der Industrie nicht akzeptiert. Das führte zu heftigen Auseinandersetzungen, mitunter auch zu leeren Regalen und Auslistungen. Wir gehen davon aus, dass die Situation im kommenden Jahr nicht weiter eskalieren wird. Wenn Produkte aber aufgrund ihrer Preise keinen Absatz finden, wird der Handel auch künftig keine Regalmeter dafür bereitstellen. Am Ende entscheidet nun mal der Markt.

Sie sehen Mitnahmeeffekte also ausschließlich auf Seiten der Industrie und keinesfalls beim Handel...

Genth: Wir haben einen hart umkämpften Markt in Deutschland, die Preise sind transparent. Jeder Verbraucher kann sie auf entsprechenden Portalen nachvollziehen und dann entscheiden. Natürlich hat auch der Handel bei der Produktion von Eigenmarkenprodukten mit höheren Kosten zu kämpfen, die sich auch im Preis niederschlagen. Aber die exorbitanten Preisforderungen von Teilen der Industrie sind nicht akzeptabel und den Konsumenten, die zum Sparen gezwungen sind, nicht zu vermitteln.

Herr Lindner, sprechen wir über Ihren Markenkern, die Schuldenbremse. Viele Fachleute und weite Teile der Wirtschaft halten sie in ihrer jetzigen Form für nicht mehr zeitgemäß. Was hielten Sie davon, wenn man staatliche Investitionen künftig von der Regelung ausnähme? Und glauben Sie, die CDU würde dabei mitgehen?

Lindner: Das muss die Union zunächst mit sich selbst klären – je nachdem, wen Sie fragen, erhalten Sie da sehr unterschiedliche Antworten. Für mich ist klar: Wir müssen uns von dem Glauben lösen, staatliche Gelder seien ein Allheilmittel. Wir investieren bereits auf Rekordniveau, auch unter der Schuldenbremse. Die Diskussionen verkennen aber, dass öffentliche Investitionen überhaupt nur ein Zehntel aller Investitionen ausmachen. Es wird also in gewisser Weise eine Scheindebatte geführt. Da geht es nicht um notwendige Zukunftsinvestitionen, sondern um den Wunsch, Politik ohne fiskalische Restriktionen machen zu können. Ich habe schon oft genug erlebt, wie politische Ausgabenwünsche zu Investitionen umgedeutet werden. Ich rate dringend davon ab, sich auf dieses dünne Eis zu begeben. Wir sollten auf dem Packeis der aktuellen Regelung bleiben. Denn auch der Finanzmarkt unterscheidet nicht dazwischen, ob Schulden investiven oder konsumtiven Charakter haben. Deutschlands Prädikat als Stabilitätsanker, das uns von den Kapitalmärkten verliehen wird, hat uns überhaupt erst ermöglicht, so kraftvoll auf die multiplen Krisen reagieren zu können.

Herr Genth, laut Umfrage des Sparkassen- und Giroverbands haben 61 Prozent der Konsumenten in den vergangenen zwölf Monaten ihr Konsumverhalten eingeschränkt. Das ist der höchste Wert seit der Finanzkrise 2008. Welche Erwartungen haben Sie für 2024?

Genth: Die Sparquote in Deutschland ist traditionell recht hoch und lag in den vergangenen Jahren immer bei mehr als zehn Prozent oder höher. Während der Coronajahre ist sie dann durch die Decke gegangen, weshalb auf den Sparkonten wahnsinnige Geldmengen lagen, die nicht für den Konsum aufgewendet wurden, sondern für die Altersvorsorge oder andere Investitionen. Mit der Inflation ist die Sparquote wieder zurückgegangen, lag aber wegen der bereits beschriebenen Verunsicherung der Verbraucher im ersten Halbjahr 2023 noch immer bei 11,1 Prozent. Weil wir aber bei Realeinkommen wieder eine positivere Entwicklung sehen und die gesamtökonomische Lage 2024 besser als 2023 sein wird, bin ich vorsichtig optimistisch – auch wenn das Weihnachtsgeschäft in diesem Jahr noch eher verhalten sein wird.

Herr Genth, in den zweieinhalb Pandemiejahren haben in Deutschland 39 000 Geschäfte geschlossen, für 2023 rechnet der HDE damit, nochmal 9 000 Standorte zu verlieren. Wird es 2024 so weitergehen oder erwarten Sie – womöglich aufgrund der politischen Unterstützung aus dem Beirat Innenstadt – eine Trendwende?

Genth: Wir hoffen natürlich, dass es eine Trendwende geben wird. Dazu bedarf es entsprechender Rahmenbedingungen. Daher halte ich den Entschluss der Bundesregierung für falsch, die Stromsteuer ausschließlich für produzierendes Gewerbe und die Industrie zu senken. Es gibt keine stichhaltigen Gründe, diese Abgabe nur für eine ausgewählte Gruppe von Unternehmen zu reduzieren und Handel, Handwerk sowie das Gros der mittelständischen Unternehmen außen vor zu lassen. Die gesamte Wirtschaft und alle Privatverbraucher sind von den hohen Strompreisen betroffen. Deshalb muss die Stromsteuer generell und für alle auf das in der EU zulässige Minimum heruntergesetzt werden. Die Coronapandemie war ein exogener Sondereffekt. Wir waren froh, dass wir seinerzeit eng mit der Politik zusammenarbeiten konnten, um manches, aber natürlich nicht alles, auffangen zu können. Wenn jetzt noch einmal 9 000 Standorte schließen, ist das ein massiver Strukturwandel, der auch zum Verlust von Vielfalt in den Innenstädten führen wird. Insofern sind wir froh, dass sich die Bundesregierung des Themas in Person der Bundesbauministerin angenommen hat.

Herr Lindner, für wie gefährdet halten Sie die Ampelkoalition, da ihr nun der finanzielle Kitt abhandengekommen ist, der es jeder der beteiligten Parteien erlaubt hat, ihre Lieblingsprojekte durchzusetzen?

Lindner: Ungefähr zwei Monate nach Antritt dieser Regierung hat Russland die Ukraine angegriffen – mit massiven finanziellen Folgen auch für Deutschland. Von daher: Diese Regierung hatte nie die Möglichkeiten wie Vorgängerregierungen, inhaltliche Differenzen mit Geld zuzuschütten. Viele Vorhaben haben wir auch schon umgesetzt, ohne den Haushalt dabei zu belasten. Aber ja, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat zwar mehr Rechtsklarheit geschaffen, aber der finanzpolitische Spielraum ist nicht größer geworden. Die Koalition steht nun gemeinsam in der Verantwortung, die Staatsfinanzen an diese Rechtsklarheit anzupassen und mit den vorhandenen Mitteln eine für die nächsten Jahre belastbare Haushaltsplanung zu organisieren. Wir werden nicht umhinkommen, neu zu priorisieren. Nicht alles wird finanzierbar sein. Aber die Aufgaben, deren Lösung wir zum Ziel haben, werden nicht obsolet. Fortschrittsgeist ist in unserem Land mehr denn je gefordert. Ich erkenne ein Bewusstsein, diese Verantwortung gemeinsam wahrzunehmen und Lösungen zu entwickeln.