Es gibt keine Wahlfreiheit, ob man arbeitet oder nicht.

Christian Lindner Wirtschaft
Rheinische Post

Lesedauer: 7 Minuten

 

Die Ampel ist auf einem Tiefpunkt der Beliebtheitswerte angelangt, der Kanzler wird bei einem Handball-Spiel ausgebuht. Warum läuft das so schief?

Lindner: Die Stimmung ist belastet durch Entwicklungen, die nicht allein in der Macht der Politik stehen. Inflation, steigender Zins, Ukraine-Krieg, steigende Energiekosten und die Konjunkturschwäche Chinas lassen unsere Wirtschaft abkühlen. Es war immer klar, dass die drei Regierungsparteien sehr unterschiedliche Positionen haben. Dennoch haben wir akute Krisen bewältigt und Modernisierungsprojekte auf den Weg gebracht. Aber es fällt schwer, eine gemeinsame Kommunikation zu erreichen. Wir müssen in diesem Frühjahr einen neuen Versuch unternehmen, gemeinsam der Wirtschaft Impulse zu geben.

SPD, Grüne und FDP haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie die Wirtschaft in Schwung bringen können. Während etwa SPD und Grüne neue Schulden machen wollen, sind Sie strikt dagegen. Wie soll das zusammenpassen?

Lindner: Ich rate zu Realismus. Die Vorschläge von SPD und Grünen widersprechen dem Grundgesetz. Sie wären auch nicht vernünftig. Denn wir zahlen für die Staatsschulden hohe Zinsen. Es wäre nicht nachhaltig, wenn wir mangelnde Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes durch Subventionen auf Pump überdecken wollten. Einen wirtschaftlichen Aufschwung erreichen wir durch weniger Bürokratie, durch marktwirtschaftlichen Klimaschutz statt Technologieverboten, durch Mobilisierung von Arbeitskräften und durch neue steuerliche Anreize für Investitionen und Forschung. Das wäre für mich ein Programm, wie wir ohne neue Subventionen erreichen, dass wir in Europa nicht mehr Schlusslicht beim Wachstum sind.

Ist es realistisch, dass die Ampel in den verbleibenden zwei Jahren dafür die Kraft findet?

Lindner: Wir haben keine zwei Jahre. Die Phase bis zum Sommer dieses Jahres ist entscheidend, um einen Aufschwung 2025 zu erreichen. Beispielsweise müssen wir jetzt die Meseberger Beschlüsse zum Bürokratieabbau umsetzen. Sie führen dazu, dass die Betriebe Milliarden Euro an Bürokratiekosten einsparen. Der Bürokratiekostenindex würde damit auf den niedrigsten Stand seit seiner Einführung 2012 sinken. Darüber hinaus müssen wir die Kritik der deutschen Wirtschaft an der EU-Lieferkettenrichtlinie ernst nehmen. Ich verstehe nicht, dass Ursula von der Leyen als CDU-Politikerin eine solche Belastung vorbereitet. Im Gegenteil, wir sollten das deutsche Lieferkettengesetz entschlacken.

Die Realität ist doch eine andere: Es wird in der Ampel weiter gestritten – zum Beispiel darüber, dass die FDP jetzt ans Lieferkettengesetz ran will.

Lindner: Die Realität ist, dass der Bundeskanzler, der Vizekanzler und ich vertrauensvoll Kompromisse erarbeiten können. Aber die Koalition ist größer. Ich erinnere daran, dass die SPD-Fraktion die Festlegungen des Koalitionsvertrages zur Schuldenbremse offen in Frage stellt. Ich nehme auch wahr, dass die Grünen-Fraktion die Beschlüsse zur Bekämpfung der irregulären Migration verzögert hat. Zum Glück ist es bisher immer gelungen, auf die Gemeinsamkeiten zurückzukommen.

Führt der ständige Ampel-Streit nicht zum weiteren Erstarken der AfD?

Lindner: Ich glaube nicht, dass die AfD kleiner wäre, wenn die FDP schweigend linke Politik durchwinken würde. Im Gegenteil: Dass wir jetzt eine neue Realpolitik in der Migration erreichen, die illegale Einwanderung stärker begrenzen, zugleich den Zugang für Fachkräfte erleichtern, dass wir einen Klimaschutz ohne Verbote anstreben, dass wir nicht uferlos Schulden machen und die Menschen steuerlich entlasten – das alles ist die Erwartung der bürgerlichen Mitte. Aber es wäre in der Tat besser, wenn unsere Ergebnisse in einem diskreteren Verfahren erarbeitet würden. Und wenn es weniger öffentliche Deutungsschlachten geben würde.

Nach einer Allensbach-Analyse hat die Bürgergeld-Erhöhung Menschen in die Arme der AfD getrieben. Teilen Sie die Einschätzung?

Lindner: Ja, das Bürgergeld ist ein Reizthema. Hier mischen sich objektive Probleme mit falschen Erzählungen. Es gibt keine Wahlfreiheit, ob man arbeitet oder nicht. Es muss in der Praxis stärker durchgesetzt werden, dass das Bürgergeld keine Rente ist, sondern eine Hilfe in der Not. Die Berechnung des Regelsatzes folgt der Statistik. Aber die Entwicklung der Inflation wurde überschätzt. Deshalb ist der Regelsatz jetzt tendenziell zu hoch. Meine Prognose ist daher, dass sich bei der Berechnung des Regelsatzes 2025 eine Nullrunde beim Bürgergeld ergeben könnte.

Die Grünen werfen Ihnen vor, mit Ihrem Auftritt beim Bauernprotest die arbeitende Bevölkerung gegen Bürgergeld-Empfänger ausgespielt zu haben. Verstehen Sie diese Kritik?

Lindner: Nein. Ich halte diese Kritik aus, weil ich überzeugt bin, dass unser Sozialstaat treffsicherer werden muss. Wer eine von den Steuerzahlern finanzierte Leistung erhält, steht in der moralischen Verpflichtung alles zu tun, diese Leistung nur so lange zu beziehen, wie es erforderlich ist. 

Brauchen wir noch mehr Sanktionen für Bürgergeld-Bezieher, die sich nicht an diese moralische Verpflichtung halten?

Lindner: Wir brauchen eine Doppelstrategie: Einerseits brauchen wir bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten. Wer Sozialleistungen bezieht und arbeitet, der soll von seinem Verdienst nicht so viel angerechnet bekommen. Es muss möglich sein, sich Schritt für Schritt aus dem Leistungsbezug herauszuarbeiten. Andererseits haben wir den Job-Turbo, der Geflüchtete aus der Ukraine in Arbeit bringt. Dessen Instrumente sollten wir auf alle Bürgergeld-Bezieher ausdehnen. Beispielsweise die engere Kontaktdichte zu den Job-Centern ist wirksam.

An diesem Dienstag bringen Sie den Haushalt 2024 in den Bundestag ein. Was tun Sie gegen neue Etatlöcher?

Lindner: Es sind für 2024 keine neuen Etatlöcher absehbar. Der Haushalt ist im Übrigen kein Sparhaushalt. Wir kürzen bei Subventionen, dem Bürgergeld und internationaler Politik, weil wir neue Schwerpunkte anderswo setzen. So sinken die Lohnsteuer und die Stromsteuer, wir investieren auf Rekordniveau zum Beispiel in die digitalen Netze, wir haben das Startchancenprogramm für die Schulen.

… aber Sie müssten noch mehr für die Verteidigung ausgeben, das Bundeswehr-Sondervermögen wird absehbar nicht mehr lange ausreichen.

Lindner: Das stimmt. Voraussichtlich hilft uns bis 2027 das Sonderprogramm im Grundgesetz, um die Nato-Quote bei den Verteidigungsausgaben von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu erreichen. Ab 2028 müssen wir das dann aus dem regulären Haushalt stemmen. Das wird funktionieren, wenn wir die Ausgaben des Staates nicht schneller wachsen lassen als die Einnahmen.

Im Moment ist es anders herum. Wie wollen Sie das hinbekommen?

Lindner: Wir haben ein strukturelles Problem, weil in den vergangenen Jahren auch von der großen Koalition kostenträchtige Entscheidungen getroffen wurden, die nicht nachhaltig finanziert waren. Wir haben aber inzwischen eine finanzpolitische Trendwende erreicht. Die Schuldenquote ist seit 2021 von 69 auf 64 Prozent gesunken, obwohl die Investitionen wachsen. Aber diese Disziplin müssen wir erhalten. Wir dürfen keine neuen dauerhaften Ausgaben mehr beschließen, die nicht bereits im Finanzplan enthalten sind. Auch ohne die zusätzlichen Herausforderungen bei der Verteidigung zeichnet sich im Bundeshaushalt 2025 nämlich bereits jetzt eine Lücke in zweistelliger Milliardenhöhe ab.

Sie haben zugestimmt, die Schuldenbremse 2024 dann auszusetzen, wenn sich im Ukraine-Krieg etwas grundlegend verschlechtert. Wann ist dieser Punkt erreicht?

Lindner: Nein, da gibt da keinen Automatismus. Wenn sich unvorhergesehene Finanzierungsnotwendigkeit ergeben, muss im Haushalt geschaut werden, wo umgeschichtet werden kann. Die Aussetzung der Schuldenbremse ist nicht die erste, sondern die letzte Option. Ich gehe da keine verfassungsrechtlichen Risiken ein.

Würde sich nicht eine Notlage ergeben, wenn der US-Kongress die Militärhilfe für die Ukraine einstellen würde?

Lindner: In diesem Szenario, das hoffentlich nicht eintritt, würden wir über gemeinsame europäische Verantwortung reden. Deutschland allein kann das nicht leisten.

Sie haben für Streit gesorgt, weil sie nur den Kinderfreibetrag rückwirkend zum 1. Januar erhöhen wollen, nicht aber das Kindergeld erhöhen. Warum?

Lindner: Für den Streit sorge ja wohl nicht ich, wenn ich längst getroffene Entscheidungen umsetze. Wir haben 2022 entschieden, 2023 das Kindergeld in einem Schritt für alle Kinder einheitlich auf 250 Euro überproportional zu erhöhen. Das Kindergeld ist stärker erhöht worden als der Kinderfreibetrag, es ist vorausgeeilt. Jetzt ziehen wir die Erhöhung beim Steuerfreibetrag nach. Niemand kann davon überrascht sein. Es ist im Übrigen verfassungsrechtlich zwingend.

SPD und Grüne sagen, das sei unsozial.

Lindner: Nein. Nur weil zuvor ja das Kindergeld überproportional erhöht und vorgezogen wurde, ist jetzt die alleinige Anpassung des Steuerfreibetrags nötig. Menschen mit höherem Einkommen zahlen im Übrigen wegen unseres progressiven Steuertarifs deutlich höhere Steuern als Menschen mit geringen Einkünften. Ein Geringverdiener, der für sein Kind eine Jacke für 100 Euro kaufen will, muss dafür vor Steuern 120 Euro brutto verdienen. Eine Fachkraft muss dagegen 170 Euro verdienen, um seinem Kind nach Steuern dieselbe Jacke für 100 Euro kaufen zu können. Wie stark wir in Deutschland bereits Umverteilung haben, wird also unterschätzt. Auch Fach- und Führungskräfte haben eine Belastungsgrenze, die man fairerweise respektieren muss.  

Ihre Absage an ein Klimageld ab 2025 hat bei SPD und Grünen Protest ausgelöst. Was nun?

Lindner: SPD und Grüne sind herzlich eingeladen, Finanzierungsvorschläge zu machen. Denn ich habe nichts abgesagt. Im Gegenteil, mein Ministerium schafft die technischen Voraussetzungen dafür, dass die Einnahmen aus dem CO2-Preis pro Kopf an die Bürgerinnen und Bürger zurücküberwiesen werden können. Aber alle Finanzmittel sind bereits verplant für Subventionen und Förderungen. Ich habe daher lediglich die Prognose gewagt, dass die Förderlandschaft realistischerweise so kurzfristig nicht umgebaut werden wird.

Welche Sorgen müssen wir uns wegen der Demografie bei der Rente machen?

Lindner: Wir beschließen jetzt bald das Rentenpaket II. Wir schreiben das Rentenniveau bis 2039 bei 48 Prozent fest, schaffen gleichzeitig eine neue kapitalgedeckte Säule zur Unterstützung der Rentenversicherung. Bis Ende des nächsten Jahrzehnts werden mindestens 200 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Ich prognostiziere, das kommende Regierungen dieses Generationenkapital noch in diesem Jahrzehnt deutlich ausweiten werden. Außerdem müssen wir die Lebensarbeitszeit verlängern. 

Ein neues heißes Eisen für Ihre Koalitionspartner!

Lindner: Nein, ich rede über die nächste Wahlperiode. Davor werden die Bürgerinnen und Bürger entscheiden. Aber wir dürfen uns dieser Realität nicht verschließen. Mir geht es nicht um ein späteres Renteneintrittsalter für alle, sondern um individuelle Entscheidungsfreiheit. Es sollte sich lohnen, wenn man länger seine Fähigkeiten und seine Erfahrungen einbringt.