Der Staat hat genügend Mittel, wenn er sie zielgerichtet einsetzt.

Christian Lindner Trendwende
FOCUS

Lesedauer: 12 Minuten

 

Herr Lindner, wenn Sie die erste Ampel-Halbzeit zurückspulen könnten: Wann würden Sie das Band anhalten, um anders zu entscheiden?

Lindner: Im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Was den Koalitionskompromiss zum zweiten Nachtragshaushalt 2021 betrifft, würde ich zurückspulen bis zum Anfang. Man würde ihn heute nicht mehr so schließen.

Damals wurden 60 Milliarden Euro, die während Corona nicht an Kreditermächtigungen benötigt wurden, in den Klimafonds verschoben …

Lindner: … und das Bundesverfassungsgericht hat diese Entscheidung verworfen. Es hat sich dabei erstmals umfassend zur Schuldenbremse und ihrer Anwendung geäußert. Daraus ziehen wir Schlussfolgerungen für die Zukunft.

Sie gehen auch davon aus, den ähnlich gelagerten Wirtschaftsstabilisierungsfonds dichtmachen zu müssen.

Lindner: Das ist bekanntlich längst erfolgt. Das Urteil ist ein Auftrag, den wir umsetzen. Wir haben reinen Tisch gemacht.

Hat Sie das Urteil geschockt?

Lindner: Die Reichweite hat mich überrascht. Wäre es nur um die 60 Milliarden Euro im Klimafonds gegangen, hätten wir schneller reagieren können. Karlsruhe hat aber gleich über eine bestehende Staatspraxis geurteilt. Beispielsweise steht auch die Verfassungsmäßigkeit des Hilfsfonds für die Flutopfer des Jahres 2021 in Frage, den die Vorgängerregierung eingerichtet hatte. Wie wird diese Gelder künftig abbilden, klären wir gerade auch mit unabhängigem Sachverstand.

Haben Sie den Eindruck, die Karlsruher Richter waren sich vielleicht selbst nicht ganz klar darüber, wie weitreichend ihr Urteil interpretiert würde?

Lindner: Das Verfassungsgericht weiß, was es tut.

Die nun verbotenen Buchungstricks gehen auf den einstigen Finanzminister Olaf Scholz zurück. Haben Sie sich mit ihm mal darüber ausgesprochen?

Lindner: Es waren keine Tricks, sondern unterschiedliche Rechtsauffassungen.

Ihr Staatssekretär Werner Gatzer, der schon drei Finanzministern vor Ihnen gedient hat, war ein Meister solcher Neben-Haushalte und Sondervermögen. Schicken Sie ihn auch deshalb jetzt zum Jahresende vorzeitig in den Ruhestand?

Lindner: Als Beamter hat Werner Gatzer Optionen aufgezeigt, die politische Verantwortung für Entscheidungen tragen jeweils die Minister. Jetzt zum Jahreswechsel steht ein Generationenwechsel an. Meine Wertschätzung für Werner Gatzer ist unverändert.

Ihrer FDP wurde dieses Jahr sehr oft vorgeworfen, sie führe sich in der Regierung auf wie eine Opposition. Zurecht?

Lindner: Nein. Diese Kritik kommt ja regelmäßig von denjenigen, die sich linke Politik in Deutschland wünschen. Links von der FDP gibt es aber keine Mehrheit. Die FDP bringt sich als Partei der Mitte in die Regierung ein.

Noch mehr Kritik als Sie musste allenfalls Robert Habeck einstecken. Warum bleiben die Grünen in Umfragen trotzdem relativ stabil?

Lindner: Abgerechnet wird zum Schluss. Wir tun unsere Arbeit. Bei der Bundestagswahl 2025 können die Bürgerinnen und Bürger dann entscheiden. In der letzten Wahlperiode standen wir zur Mitte auch etwa so wie jetzt, dann wurde es ein zweistelliges Ergebnis. Das ist wieder mein Ziel.

Die einen nennen Sie einen „Bremser“, für andere sind Sie ein Erfüllungsgehilfe von Rot-Grün. Wo sehen Sie sich selbst?

Lindner: Wenn man in der Regierung Kompromisse schließt, dann wird man immer von zwei Seiten kritisiert. Wenn man objektiv die Regierungsarbeit betrachtet, dann holen wir viel von dem geerbten Modernisierungsstau der Vorgängerregierung auf. Und man kann klar erkennen, dass die Freie Demokraten mitprägen.

Zum Beispiel?

Lindner: Zum Beispiel betrug 2021 die gesamtstaatliche Schuldenquote 69 Prozent. Nächstes Jahr wird sie bei gut 64 Prozent liegen. Zugleich werden die Steuern nicht erhöht, sondern im Gegenteil kommt zum 1. Januar eine Entlastung bei der Einkommensteuer in Höhe von 15 Milliarden Euro. Für viele Familien sind das mehrere hundert Euro mehr Netto. Trotz allem investieren wir deutlich mehr in Infrastruktur und Technologien als vor der Pandemie. Die fiskalische Trendwende ist also gelungen, obwohl wir große Herausforderungen zu bestehen hatten.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stehen wir damit glänzend da. So gut, dass Kritiker der Schuldenbremse mahnen, man hätte viel mehr Spielraum für weitere Ausgaben.

Lindner: Nach den Maastricht-Kriterien müssen wir eine Schuldenquote von 60 Prozent unterbieten. Wir haben also weitere Arbeit vor uns. Außerdem hilft unsere moderat restriktive Fiskalpolitik dabei, die Inflation zu bekämpfen. Ich bin aber offen dafür, die Ausgaben für Bildung, Forschung und Investitionen zu erhöhen. Das sollte aber durch Umschichtungen und nicht durch uferlos neue Schulden erfolgen.

Die USA geben das Geld unterdessen mit vollen Händen aus und locken etwa mit Fördergeldern aus dem Inflation Reduction Act auch deutsche Firmen nach Übersee.

Lindner: Man muss erst noch sehen, ob die USA mit ihren schon jetzt enorm hohen Defiziten und Zinsbelastungen ihre Politik über den nächsten Präsidentschaftswahlkampf hinaus durchhalten. Im Übrigen investieren wir ebenfalls in enormer Höhe.

Aber Sie schicken die Menschen im Land doch jetzt mit einer seltsamen Botschaft in die Weihnachtsferien: Freut Euch, die Schuldenbremse steht, aber von E-Auto-Förderung bis zu Subventionen für Agrar-Diesel fallen viele Nettigkeiten weg.

Lindner: Wir müssen umsteuern. Ja, es sollen Subventionen im Umfang von drei Milliarden Euro wegfallen. Aber auf der anderen Seite finanzieren wir die Senkung der Stromsteuer für das produzierende Gewerbe ebenfalls im Umfang von drei Milliarden Euro. Es kommt volkswirtschaftlich nicht zu einer Belastung, sondern zu einer Umschichtung für mehr Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Dass die Menschen ab Januar unter dem Strich mehr Geld netto übrig behalten, hatte ich ja schon gesagt.

Den Bundesbürgern kommt’s nicht so vor.

Lindner: Der Gehaltsauszug im Januar ist dann hoffentlich ein Stimmungsaufheller. Davon brauchen wir mehr. Wir werden die Wirtschaft nicht auf Erfolgskurs bringen, indem wir Subventionen erhöhen. Wir brauchen mehr private Investitionen.  

Woran liegt’s?

Lindner: Die Situation der chinesischen Wirtschaft, der gestiegene Zins und der Energiepreisschock nach dem russischen Angriff auf die Ukraine belasten. Das können wir kaum beeinflussen. Umso mehr müssen wir daran arbeiten, was wir in der Hand haben. Nach dem Konsolidierungspaket für den Haushalt sollte zu Jahresanfang ein Dynamisierungspaket für die Wirtschaft folgen. Es sollte die steuerlichen Anreize für private Investitionen und Forschung enthalten, die im Wachstumschancengesetz vorgesehen sind, außerdem weiteren Abbau von Bürokratie und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Die Wirtschaftspolitik muss sich von Lenkung und Subventionierung wieder mehr zur Ermöglichung und der Anerkennung unternehmerischen Risikos entwickeln.

Es wächst aber die Sorge, dass wir vor lauter Sparen und Schuldenbremse den nachwachsenden Generationen nur noch eine endgültig marode Infrastruktur hinterlassen.

Lindner: Nochmals, wir investieren bereits auf Rekordniveau. Immer mehr öffentliche Mittel zu fordern, kann irgendwann auch dazu führen, dass private Vorhaben verdrängt werden. Mehr bedeutet nicht immer besser. Die Modernisierung von Infrastruktur und Netzen kann im Rahmen der Schuldenbremse erfolgen. Der Staat hat genügend Mittel, wenn er sie zielgerichtet einsetzt.

Gibt’s Bereiche, wo Sie gern für den Haushalt 2024 andere Prioritäten gesetzt hätten?
Lindner: Die Treffsicherheit unseres Sozialstaats muss optimiert werden.

Kurz: Es wird zu viel für Soziales ausgegeben?

Lindner: Wir können mit weniger Geld bessere Ergebnisse erzielen. Aber wir machen auch hier Fortschritte. Beispielsweise kommt ein Jobmotor für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen, Verweigerer im Bürgergeld werden schärfer sanktioniert. Das macht über eine Milliarde Euro Einsparungen aus. Was strukturelle Eingriffe in Leistungsgesetz angeht, gab es aber klare rote Linien bei der SPD. Das muss in einer Koalitionsregierung akzeptiert werden.

Ihre eigene rote Linie ist die Schuldenbremse, die der SPD die Erhöhung des Bürgergeldes?

Lindner: Die Anpassung des Bürgergeldes erfolgt auf der Basis geltenden Rechts, dem die CDU zugestimmt hat. Das ist keine politische Entscheidung. Allerdings lag der Erhöhung zum 1. Januar eine veraltete Inflationsprognose zugrunde. Deshalb gibt es zwei Konsequenzen. Erstens steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es 2025 zu einer Nullrunde beim Bürgergeld kommt. Zweitens wird der Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer im kommenden Jahr um weitere 180 Euro erhöht. Davon profitieren alle Steuerzahler.

Gerade gehen alle gegen die neuen Sparankündigungen auf die Barrikaden – in dieser Woche vor allem die Bauern und die Luftfahrtbranche. Wäre es nicht schön, ihnen doch Linderung in Aussicht zu stellen?

Lindner: Niemand entscheidet sich gerne und leichtfertig für Belastungen. Nicht alles gefällt mir persönlich. Aber Steuersenkung für Mittelstand und Mittelschicht, weniger Stromsteuer, Senkung der Schuldenquote, Rekordinvestitionen und Geld für Bildung sind finanziell nur vereinbar, wenn auf der anderen Seite auch Subventionen beendet werden. Deshalb ist es jetzt nicht an mir, den gefundenen Kompromiss in Frage zu stellen.

An Ihnen vielleicht nicht, aber schon wenige Stunden nach der vermeintlichen Lösung der Haushalts-Misere kamen aus allen drei Ampel-Parteien Mahnungen, wo nachgebessert werden müsste. Nervt das nicht?

Lindner: Das ist gelebte Gewaltenteilung. Es ist jetzt ja auch Sache des Haushaltsgesetzgebers. Da werden die unterschiedlichen Ziele und Maßnahmen abgewogen. Wenn es an anderer Stelle eine alternative Gegenfinanzierung gibt, wird das Parlament den Vorschlag möglicherweise modifizieren.

Bei all den roten Linien und Streits – da werden Sie nie laut?

Lindner: Nein. Ich provoziere höchstens mal mit kleinen Scherzen.

Teilen Sie die Einschätzung, dass der Kanzler zu wenig führt?

Lindner: Olaf Scholz steuert eine Koalitionsregierung. Basta-Ansagen funktionieren da nicht.

Aber Verlässlichkeit ist eine politische Größe, die viele Menscheng gerade vermissen! Das Vertrauen in die Regierung ist auf einem Tiefstand.

Lindner: Die äußeren Herausforderungen für unser Land und sein Modernisierungsstau sind ja ebenfalls außergewöhnlich. Hinzukommt, dass die Koalition aus sehr unterschiedlichen Parteien gebildet wird. Wir verhandeln gewissermaßen die Konflikte, die es in der Gesellschaft gibt, auch untereinander. Das ist Demokratie.

Der steigende Prozentsatz von Protestwählern, die bei der AfD landen, könnte ein Indiz dafür sein, dass viele tatsächlich dieses demokratische System hinterfragen.

Lindner: Das glaube ich nicht. Viele Protestwähler wollen andere Politik, aber kein anderes System. Mein Ziel ist, viele dieser Menschen zurückzugewinnen. Nicht durch den moralischen Zeigefinger, sondern einen Politikwechsel. Beispielsweise bei der Migration kann ich die Ungeduld verstehen. Jetzt haben wir aber endlich eine neue Realpolitik in der Migrationspolitik beschlossen. Von Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen, den Grenzschutz bis hin zu geringeren Sozialleistungen für Asylbewerber in Deutschland. Derlei wäre selbst der letzten CDU-Regierung noch viel zu weit gegangen. Zugleich machen wir es denen leichter, die wir als Fachkräfte dringend im Land brauchen.

Reicht vielen aber dennoch nicht, die Union bringt täglich weitergehende Forderungen!

Lindner: Vom Europäischen Recht über das Grundgesetz bis hin zu den parlamentarischen Mehrheiten muss man viele Dinge bedenken. Manche Forderung ist deshalb schlicht nicht umsetzbar. Manches wäre auch nicht wirksam.

Der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz stichelt nicht nur gegen Grün, sondern auch gern in Richtung FDP. Sind Sie weiter voneinander entfernt als früher?

Lindner: Nein. Aber die Union liebäugelt ja auch mit Steuererhöhungen und hat in den Ländern eine ungeklärte Position zur Staatsverschuldung und ihrer Begrenzung. Wir halten dagegen daran fest, dass Steuererhöhungen ausgeschlossen sein sollten und die Schuldenbremse sich bewährt hat. Trotzdem teilen wir viele Positionen, für die es aber im Parlament keine Mehrheit mehr gibt seit 2013 …

… als die schwarz-gelbe Koalition abdanken musste.

Lindner: Seither müssen immer öfter Regierungen gebildet werden, die über die früheren Lager gebildet werden. Es hängt damit zusammen, dass auch bürgerliche Wählerinnen und Wähler die AfD aus Protest wählen. Paradoxerweise stärkt im Ergebnis jede Stimme für die AfD die Parteien links der Mitte.

Wäre Regieren mit Merz leichter?
Lindner: Nein. Die äußeren Krisen von Russlands Krieg bis zur Inflation wären dieselben und die Reaktionen vermutlich vergleichbar. Die FDP ist eine eigenständige Partei. Mit der Union würden wir über andere Fragen diskutieren.

Zum Beispiel?

Lindner: Als individualistischer Liberaler bin ich kein Anhänger irgendwelcher Leitkulturen.

Ihre Liberalen sind so freigeistig, dass sie derzeit sogar eine Mitgliederbefragung durchführen, ob die FDP die Ampel verlassen soll. Wie wird’s ausgehen?

Lindner: Es wird ein Ergebnis geben.

Ab welchem Prozentsatz von Ampel-Ablehnung würden Sie selbst Ihrer Partei die Brocken hinschmeißen?

Lindner: Als Parteivorsitzender führe ich die Partei und diene ihr zugleich. Deshalb habe ich großen Respekt vor unseren Mitgliedern, auch den kritischen. Wir haben ja alle dieselben Ziele, nämlich Deutschland freier, moderner, digitaler und weltoffener machen. Deshalb will ich unserer Basis nochmals darlegen, was die FDP in dieser Regierung dazu leistet. Das ist viel. Und was wäre denn die Alternative? Eine rot-grüne Minderheitsregierung? Eine SPD geführte große Koalition? Chaos einer Neuwahl mit ungeklärten Mehrheiten danach? Um eine Regierung scheitern zu lassen, muss man sehr gute Gründe haben. Mit dem Nein zu Jamaika 2017 ist das auch nicht vergleichbar, denn damals waren wir nicht Teil einer Regierung, sondern lediglich in Verhandlungen.

Viele in Ihrer Partei scheinen aber an der Koalition zu verzweifeln. Kann man eine Parallele ziehen zwischen FDP-Mitgliedern und deutscher Wählerschaft: Die Laune ist mieser als die Lage?

Lindner: Ich will das nicht so spielerisch sagen. Richtig ist, dass unser Land insgesamt unter Druck steht. Das hängt mit den Krisen von außen sowie den notwendigen Veränderungen im Inneren zusammen. Den einen steckt noch Corona in den Knochen. Die anderen leiden mit der Ukraine und sorgen sich um die europäische Friedensordnung. Dazu Zinswende und Inflation. Ich bin aber optimistisch, dass wir uns eine Trendwende erarbeiten.

2024 steht im Zeichen von drei weiteren Landtagswahlen, alle in ostdeutschen Ländern – für die FDP möglicherweise ein Horrorjahr, oder?

Lindner: Mit unserer designierten Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann haben wir erst einmal eine starke Chance bei der Europawahl. Marie-Agnes ist bekanntlich streitbar. Und angesichts der Bürokratie aus Brüssel wird genau dies dort gebraucht. Das ist der beste Start in den Wahlkampf für die drei Landtagswahlen.

Aber müssen Sie sich nicht vor allem darauf konzentrieren, der AfD wieder Wähler abnehmen?

Lindner: Das ist eine Aufgabe für alle. Man muss nur unterscheiden zwischen jenen Menschen, die unsere liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung inzwischen komplett ablehnen und jenen, die sich Sorgen machen. Für die Letzteren haben wir ein Angebot, wie ich finde.

Welches konkret?

Lindner: Auch ich will einen Staat, der weniger Schulden macht, weniger Steuern verlangt, bürokratische Fesseln lockert, illegale Migration bekämpft, Klimaschutz mit Vernunft macht und dafür sorgt, dass Arbeit sich immer mehr lohnt als nicht zu arbeiten. Das sind ja die Triggerpunkte, die viel Menschen unzufrieden machen.

Mit Ihren europäischen Finanzminister-Kollegen verabschieden Sie gerade den Fiskalpakt. Zufrieden?

Lindner: Ja, denn die Versuche, den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufzuweichen, konnten wir abwenden. Vor zwei Jahren wurden ja selbst die bekannten Maastricht-Kriterien von drei Prozent Haushaltsdefizit und 60 Prozent Staatsverschuldung in Frage gestellt. Zugleich war der Reformbedarf evident. Denn der alte Stabilitäts- und Wachstumspakt war nicht wirksam. Statt die Schulden in den Jahren vor der Pandemie zu begrenzen, sind sie teilweise gestiegen. Die neuen Regeln führen durch mehr Realismus und mehr Akzeptanz zu einem im Ergebnis dann verlässlichen Pfad zu niedrigeren Defiziten und sinkenden Schuldenquoten.

Was bedeutet die Einigung konkret?

Lindner: Wir haben zwei Sicherheitslinien eingezogen. Die Staatsschuldenquote muss jährlich sinken. Und die Haushaltsdefizite müssen ebenfalls stetig Schritt für Schritt reduziert werden. Hier haben wir mit dem Ziel von 1,5 Prozent einen Sicherheitsabstand zur Obergrenze von drei Prozent eingezogen. Zugleich setzen die neuen Fiskalregeln Anreize für Investitionen und Strukturreformen.

Welche Sanktionen wird es geben?

Lindner: Der so genannte korrektive Arm des Stabilitätspakts ist unverändert. Auch dies war umstritten. Es bleibt also dabei, dass bei exzessiven Defiziten überhalb von drei Prozent Verfahren eingeleitet werden.

Und was können wir von der zweiten Halbzeit der Ampel noch erwarten?

Lindner: Im Jahr 2024 muss die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft im Zentrum stehen. Außerdem stehen Reformen im Sozialsystem an. Wir führen das Generationenkapital ein, der Beginn der Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rente. Außerdem wollen wir die private Altersversorgung am Kapitalmarkt attraktiver machen. Die Arbeit geht uns nicht aus.

Was haben Sie in zwei Jahren Regierung vor allem gelernt?

Lindner: Mein Respekt vor Regierungsämtern ist weiter gewachsen. Man steckt zwar chronisch in Dilemma-Situationen, kann aber Wichtiges bewirken.

Als Finanzminister müssen Sie sehr oft „Nein“ sagen. Würden Sie gern öfter mal „Ja“ sagen?

Lindner: Nein... (lacht) Aber Spaß beiseite, wir ermöglichen hier viel. Das Inflationsausgleichsgesetz etwa macht im Vergleich zu 2022 für eine Familie mit einem Jahreseinkommen von 66.000 Euro eine Entlastung von fast 2300 Euro aus. Das ist doch was.

Was wünschen Sie Robert Habeck zu Weihnachten?
Lindner: Was ich allen wünsche: Frieden.

Haben Sie noch einen Tipp für uns, um rechtzeitig zu den Feiertagen schnell tiefenentspannt zu werden?

Lindner: In meinem Fall: Weihnachtsbaum schmücken. Ich habe unseren vor zehn Tagen geholt, aber weder meine Frau noch ich hatten bisher Zeit. Darauf freue ich mich.