Alles andere wäre eine heimliche, feige Steuererhöhung.

Christian Lindner Wachstum
Handelsblatt

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Herr Lindner, in Berlin gibt es Spekulationen, die FDP könnte aus der Regierung aussteigen. Lassen Sie die Koalition platzen?

Lindner: In Berlin ist die Nervosität immer groß. Ich empfehle, sich auf die Sache zu konzentrieren. Die Bundesregierung muss sich auf einen Haushalt für das kommende Jahr und ein Konzept zur Überwindung der Wachstumsschwäche verständigen. Wenn das gelungen ist, verschwinden die Spekulationen.

Aber aus der Luft gegriffen sind die Gerüchte doch nicht. Sie sinnieren darüber, wie „eindrucksvoll“ der Schritt der FDP 1982 war, aus der Koalition mit der SPD auszusteigen. Und dass Sie selbst zu so einem Schritt fähig sind, haben Sie 2017 bewiesen, als Sie die Sondierungen zu einem Jamaika-Bündnis haben platzen lassen.

Lindner: Ich bestreite nicht, dass die FDP zu konsequentem Handeln fähig ist. Aber viele der Probleme, die wir zu lösen haben, hängen mit der CDU-geführten Vorgängerregierung zusammen. Seit 2014 verliert unser Land an Wettbewerbsfähigkeit. Wir mussten das Asylchaos und die Abhängigkeit von russischem Gas beenden. Ich denke an eine CSU, die sich lieber mit einer rechtswidrigen Maut statt mit Digitalisierung beschäftigt hat. Und die Folgen der Lockdown-Politik der CDU sieht man im Bildungssystem. Weil ich ein gutes Gedächtnis habe, beteilige ich mich nicht an Koalitionsspielchen.

Sie haben den Etat bereits angesprochen. SPD und Grüne halten ihre Haushaltspolitik für krisenverschärfend. Tragen Ihre Koalitionspartner die von Ihnen geforderten Einsparungen mit?

Lindner: Im Gegenteil, ich sage SPD und Grünen stets, dass die Haushaltspolitik keine Krisen verschärft, sondern ein Beitrag zur Lösung ist. Zur Bekämpfung der Inflation ist eine moderat restriktive Fiskalpolitik nötig. Sonst würde ich gegen die Zentralbank arbeiten. Wenn wir erfolgreich sind und irgendwann die Zinswende kommt, dann nehme ich diesen Erfolg für uns in Anspruch. Der Kanzler und der Vizekanzler unterstützen mich. Aber wir sollten aufhören, von einem Sparkurs zu sprechen.

Die Ministerien sollen im nächsten Jahr 25 Milliarden Euro weniger ausgeben als in diesem. Was ist das bitte anderes als ein Sparkurs?

Lindner: Zahlen kann ich nicht bestätigen. Aber im Vergleich zum Ausgabepfad, den es vor der Corona-Pandemie gab, haben wir immer noch ein höheres Niveau. Allerdings kommen wir nach niedrigen Zinsen und krisenbedingten Sonderausgaben zu einer Normalisierung. Das begrenzt Wünsche. Verschärfend kommt hinzu, dass wir umsteuern: Wir müssen weg von Konsumausgaben und Umverteilung, hin zu Steuerentlastung, Investitionen, Verteidigung und Bildung.

Im Vorjahr haben Sie in die Haushaltsverhandlungen eine Subventions-Streichliste eingebracht, die dann wieder in der Schublade verschwand. Holen Sie die Liste jetzt wieder raus?

Lindner: Die Liste war nie weg, aber einiges davon wurde schon umgesetzt. Alle Kabinettsmitglieder sind aufgerufen, ihren Ressortbereich einer Inventur zu unterziehen.

Sie wollen auch die Berechnung der Konjunkturkomponente bei der Schuldenbremse ändern, wodurch im Rahmen der Schuldenbremse ein etwas größerer Spielraum entstehen könnte.

Lindner: Nein, es geht nicht um dauerhaft zusätzlichen Spielraum. Es geht lediglich darum, den Konjunkturverlauf technisch besser in der Schuldenbremse abzubilden. Das ist ein wirtschaftswissenschaftlicher Beratungsprozess, den ich vor politischer Einflussnahme schütze.

Erst sagten sie aber, diese Reform bringe 900 Millionen Euro im Jahr, jetzt sollen es zwei Milliarden sein.

Lindner: Zahlen kann ich nicht bestätigen, aber die Wachstumsprognosen wurden inzwischen nach unten revidiert. Allein deshalb steigen leider die Zahlen des Verfahrens zur Konjunkturbereinigung. Für mich entscheidend ist, dass auch kritische Finanzwissenschaftler die Vorschläge begrüßen. Andernfalls würde ich die Finger davon lassen, denn die Glaubwürdigkeit der Haushaltspolitik ist mir wichtiger.

SPD und Grüne wollen die Schuldenbremse grundlegend reformieren und bekommen dafür inzwischen von allen Seiten Rückdeckung: von Forschungsinstituten, dem Sachverständigenrat, dem Internationalen Währungsfonds. Warum ist es so einsam um Sie?

Lindner: Die Debatte übersieht die Details. Der IWF beispielsweise attestiert, dass die öffentlichen Investitionen in Deutschland zu gering seien. Die Zahlengrundlage ist aber alt. Inzwischen ist die Investitionsquote deutlich gestiegen. Die Forschungsinstitute wiederum sagen, eine Reform der Schuldenbremse sei nicht vorrangig für den Standort, aber man könne etwas tun, wenn die Schuldenquote wieder unter 60 Prozent liegt. Da sind wir aber noch nicht. Danach kann ich mir auch Schritte vorstellen.

Was können Sie sich vorstellen?

Lindner: Durch die Pandemie ist die Schuldenquote zum BIP von 59 auf 69 Prozent gestiegen. Während meiner Amtszeit ist sie schon auf 64 Prozent gesunken. Wenn wir Disziplin behalten, werden wir 2028 eine Schuldenquote auf Vor-Corona-Niveau haben. Dann kann ich mir vorstellen, den Tilgungsplan der Pandemiekredite zu ändern. Das würde  über neun Milliarden Euro Entlastung bringen, die wir etwa zur Stärkung der Bundeswehr einsetzen könnten.

Wären Sie auch bereit, für die Zeit nach 2025 über eine Reform der Schuldenbremse zu sprechen?

Lindner: Über die Schuldenbremse wird bei der Bundestagswahl abgestimmt. Ich habe gerade einen Vorschlag gemacht, wie wir ohne Änderung des Grundgesetzes ab 2028 Spielräume gewinnen. Die Wissenschaftler, die weitergehende Änderungen im Sinn haben, unterschlagen oft eins: Politik. Der Ökonom an seinem Lehrstuhl glaubt, dass sich die Politik in Wahlkampfzeiten an ordnungspolitische Vernunft hält. Das bezweifle ich.

Sie fürchten, die Büchse der Pandora würde geöffnet?

Lindner: Es gäbe den Anreiz, Investitionen in einen Bereich außerhalb der Schuldenbremse zu verschieben, um innerhalb des Etats Sozialleistungen und Subventionen zu erhöhen. SPD und Grüne verbergen ja gar nicht, dass sie die Schuldenbremse schleifen wollen, weil sie Sozialreformen etwa bei Bürgergeld und Rente tabuisieren. Diese Politik wäre fatal, denn die Lasten von Zins und Demographie im Haushalt würden uns strangulieren. Außerdem muss man sehen, dass es alle paar Jahre Krisen gibt, in denen man mit Notlagenkrediten arbeiten muss. Es stärkt die Resilienz, wenn wir nicht alle fiskalischen Reserven nutzen.

Wenn Sie die Nato-Quote erfüllen wollen, muss der Verteidigungsetat um bis zu 30 Milliarden Euro im Jahr steigen. Diese Summe können Sie kaum einsparen.  

Lindner: Nein, dafür brauchen wir Wachstum. Mit neuen Verschuldungswegen könnten wir eine dauerhafte Aufgabe wie die Bündnisverteidigung nicht finanzieren, denn damit geht keine Steigerung des Potentialwachstums einher. Sprich, wir würden die Schuldentragfähigkeit verschlechtern. Deshalb sage ich: Damit wir 2028 über eine Wachstumsdividende im Haushalt verfügen, brauchen wir jetzt eine Wirtschaftswende.

Angeblich haben Sie bereits ein Papier mit 50 Vorschlägen für eine Wirtschaftswende. Was sind denn die wichtigsten Punkte?

Lindner: Darüber beraten wir in der Regierung. Aber die Ziele sind klar. Wir müssen erstens Fach- und Arbeitskräfte mobilisieren. Zweites muss die Bürokratielast runter. Da tun wir bereits einiges, aber zum Beispiel beim Lieferkettengesetz gäbe es weiteres Potential. Drittens muss die Steuerlast reduziert werden. Viertens brauchen wir mehr privates Kapital für Investitionen. Fünftens muss der Aspekt Wettbewerbsfähigkeit in der Energiepolitik gestärkt werden.

Gibt es auch überraschende Knaller in Ihrem Papier?

Lindner: Mir geht es nicht um Showeffekte. Mir geht es darum, ein Konzept zu erarbeiten, das bessere Rahmenbedingungen schafft.

Sie wollen auch den Soli abschmelzen. Wie passt das zusammen – einerseits Milliardenlücken im Haushalt und gleichzeitig Steuern senken?

Lindner: Das ist die Herausforderung in der Koalition. Gelingt es, beispielsweise Mittel im Sozialbereich zu reduzieren, um damit die wirtschaftliche Entwicklung anzuschieben? Ich bin dafür, denn nur durch die Stärkung unserer ökonomischen Basis können wir international Verantwortung übernehmen, unseren Sozialstaat finanzieren und ökologische Vorhaben realisieren.

Das klingt jetzt alles etwas unkonkret. Wissen Sie selbst nicht, wo Sie sparen wollen?

Lindner: Es wäre kein guter Stil, den Kollegen ein Haushaltskonzept via Interview zu servieren.

Macht eine Abschaffung des Soli Sinn? Damit entlasten Sie nicht nur Unternehmer, sondern auch gutverdienende Arbeitnehmer.

Lindner: Wir sollten nicht warten, bis das Bundesverfassungsgericht über den Soli entscheidet. Das Gros des Aufkommens trägt die Wirtschaft. Tatsächlich habe ich aber auch kein Problem damit, Fach- und Führungskräfte zu entlasten. Denn wir müssen attraktiver werden für Talente aus dem Ausland. Gegenwärtig zieht Deutschland aber Geringqualifizierte mit hohen Sozialleistungen an und schreckt Hochqualifizierte aufgrund hoher Steuern ab. Wenn wir diesen Umstand ändern, profitieren wir unter dem Strich.

Sie haben gefordert, inflationsbedingte Steuererhöhungen, auch kalte Progression genannt, auszugleichen. SPD und Grüne sind dagegen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie sich durchsetzen werden? 

Lindner: So wie 2022. Da haben wir das schon diskutiert. Das Inflationsausgleichgesetz hat dann für 2023 und 2024 den Steuertarif angepasst. Allein in diesem Jahr war das eine Steuerersparnis von 15 Milliarden Euro. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, alles andere wäre eine heimliche, feige Steuererhöhung.

Im Vorjahr haben Sie Reichensteuerzahler beim Ausgleich der kalten Progression ausgenommen, auch um SPD und Grünen die Zustimmung zu erleichtern. Wäre das nun wieder eine Option?

Lindner: Ja, ich halte mich exakt an die Vereinbarung von 2022. Das erhoffe ich mir auch von den Koalitionspartnern.

Nato-Generalsekretär Stoltenberg will ein Militärhilfepaket für die Ukraine im Umfang von 100 Milliarden auflegen. Haben Sie schon eine Ahnung, wie groß Deutschlands Anteil sein könnte?

Lindner: Die Ukraine ist unsere erste Verteidigungslinie. Deshalb werden wir sie weiter unterstützen. Aber der Stoltenberg-Vorschlag ist noch zu unkonkret, um bewertet zu werden.

Wenn die Ukraine die erste Verteidigungslinie ist, wie bewerten Sie den Vorschlag von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, den Ukraine-Konflikt einzufrieren, um eine diplomatische Lösung zu finden?

Lindner: Putin will Europa spalten und die NATO zerstören, um eine Vormachtstellung in Europa zu erhalten. Die Äußerungen von Herrn Mützenich sind deshalb gefährlich, weil sie Zweifel unter unseren Partner in Ost- und Nordeuropa sähen.

Hätten Sie vom Kanzler erwartet, die Aussagen einzufangen? Oder will Scholz doch nur mit einem neuen Friedenskurs bei den anstehenden Wahlen Stimmen abgreifen?

Lindner: Frieden will ich auch. Aber der Preis für Frieden in Freiheit ist Wehrhaftigkeit. Wenn die Ukraine fallen würde, dann rückte der Krieg näher an uns heran. Zudem kämen potenziell Millionen weiterer Flüchtlinge.

Warum gebietet dann niemand in der SPD Mützenich Einhalt?

Lindner: Das müssen Sie andere fragen. Klar ist: Die Aussagen des SPD-Fraktionsvorsitzenden haben keinerlei Auswirkung auf eine von der FDP mitgetragene Regierung.