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Dieser Text ist ein gemeinsamer Artikel der Finanzminister von elf EU-Staaten: Christian Lindner (Deutschland), Zbyněk Stanjura (Tschechien), Magnus Brunner (Österreich), Assen Vassilev (Bulgarien), Stephanie Lose (Dänemark), Marko Primorac (Kroatien), Klemen Boštjančič (Slowenien), Gintarė Skaistė (Litauen), Arvils Ašeradens (Lettland), Mart Võrklaev (Estland), Yuriko Backes (Luxemburg)

Um die drängenden aktuellen und zukünftigen Herausforderungen bewältigen zu können, vor denen die Europäische Union steht, gibt es einen Dreh- und Angelpunkt: Wir brauchen nachhaltige öffentliche Finanzen, die Stabilität, Wachstum und Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union als Ganzes gewährleisten. Sowohl heute als auch auf lange Sicht. Die gute Nachricht ist, dass wir dafür einen Mechanismus haben: den Stabilitäts- und Wachstumspakt.

Was ist passiert? Vor der Pandemie war die Finanzpolitik in Europa zeitweise zu expansiv. Eine normale bis gute wirtschaftliche Lage wurde nicht ausreichend zur Konsolidierung und zum Aufbau fiskalischer Puffer genutzt. Dabei wurden die Regeln des Paktes genau dafür entwickelt, es den Ländern zu ermöglichen, in guten Zeiten fiskalische Puffer aufzubauen, auf die sie in schlechten Zeiten zurückgreifen können.

Fiskalregeln überarbeiten

Mit den Maßnahmen, die zur Bewältigung der negativen Folgen der Pandemie ergriffen wurden, stieg die Staatsverschuldung in einigen EU-Mitgliedstaaten auf ein Rekordniveau, ebenso wie die öffentliche Verschuldung auf gesamtstaatlicher Ebene. Lag die Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten des Euroraums im Jahr 2019 durchschnittlich noch bei 86 Prozent des BIP, so stieg sie 2020 schnell auf knapp 100 Prozent an, bevor sie bis 2022 wieder auf rund 93 Prozent sank. Im Jahr 2002, als das Euro-Bargeld eingeführt wurde, lag die Quote noch bei 68 Prozent.

Es muss allen klar sein, dass die Schuldenstände nicht in jeder Krise unbegrenzt steigen können. Dies würde die öffentlichen Haushalte dauerhaft überfordern, was in Zeiten steigender Zinsen besonders kostspielig ist. Dieses Geld kann an anderer Stelle besser eingesetzt werden. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen wir vor vielfältigen Herausforderungen stehen. Auch aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass wir die Fiskalregeln wieder einführen – aber wir müssen sie zusätzlich überarbeiten, um in den kommenden Jahren eine angemessene Haushaltsplanung und Prioritätensetzung zu gewährleisten.

Geopolitische Realitäten sind keine Entschuldigung

Wirksame finanzpolitische Regeln sind wichtig, um sicherzustellen, dass die Finanzpolitik keinen dauerhaften Inflationsdruck erzeugt. Dies gilt insbesondere innerhalb der Währungsunion. Die Fiskalpolitik kann nicht die veränderten geopolitischen Realitäten ignorieren, einschließlich des Klimawandels, der digitalen Transformation und der Verteidigungspolitik. Aber allen sollte klar sein: Für die Kapitalmärkte sind Schulden Schulden.

Die Kapitalmärkte interessieren sich nicht dafür, warum Schulden aufgenommen wurden. So ehrenwert die Motive auch sein mögen. Um die Glaubwürdigkeit gegenüber den Kapitalmärkten zu bewahren, müssen die Mitgliedstaaten übermäßige Defizite und Schuldenstände vermeiden oder ihre Defizite und Schuldenquoten rechtzeitig und ausreichend auf realistischem Weg reduzieren.

Die Europäische Kommission hat Ende April ihre Vorstellungen für die zukünftige Ausgestaltung unseres gemeinsamen wirtschaftlichen Regelwerks vorgelegt. Diese Vorschläge sollten als Ausgangspunkt für unsere Diskussionen im Rat betrachtet werden, nicht als ihr Abschluss.

Wir sind der Meinung, dass klare und verständliche Regeln, die für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten, die Einhaltung und Durchsetzung der Regeln erleichtern. Wir sehen es daher als unsere Aufgabe an, uns für verlässliche, transparente, leicht messbare und verbindliche Fiskalregeln in Europa einzusetzen.

Denn diese vier Faktoren sind die Bedingungen für eine Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten. Quantitative Kriterien, die für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten, tragen dazu bei, indem sie eindeutige Mindestanforderungen formulieren, die eine Konsolidierung ermöglichen und wirtschaftliches Wachstum unterstützen. Fiskalpolitik spiegelt letztendlich die politischen Prioritäten wider.

Die Vorschläge der Kommission sehen eine stärkere mittelfristige Ausrichtung der Haushaltspolitik vor. Dies hat Vorteile, vor allem weil finanzpolitische Risiken über den kurzfristigen Horizont hinausgehen und nicht außer Acht gelassen werden können. Und es kann Ländern kurzfristig mehr Spielraum für politische Prioritäten geben, wenn sie sich zu Wirtschaftsreformen, die langfristig die öffentlichen Finanzen und die Schuldentragfähigkeit verbessern, verpflichten und damit beginnen, diese Reformen umzusetzen.

Die Gefahren der Langfristigkeit

Gleichzeitig müssen wir uns fragen, wie wirksam Reform- und Ausgabeentscheidungen sein werden, wenn sie zu weit im Voraus getroffen werden, auch angesichts der immer größeren Unsicherheiten, mit denen die Union konfrontiert ist. Wir bezweifeln, dass wir die bestmöglichen Ergebnisse erzielen können, wenn der Zeithorizont für eine notwendige Konsolidierung weit über den Zyklus einer Legislaturperiode hinaus geht.

Werden Pläne zu weit im Voraus festgelegt, besteht die Gefahr, dass sie durch aktuelle Entwicklungen überholt werden, dass wir in Europa zu langsam auf neue Herausforderungen reagieren und dadurch unsere globale Wettbewerbsfähigkeit schwächen. Zudem darf eine stärkere mittelfristige Ausrichtung nicht dazu führen, dass künftige Entwicklungen genutzt werden, um heute notwendige fiskalische Anpassungen zu verschleppen oder in die Zukunft zu verlagern.

Dies würde die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen auf Dauer weiter belasten und die Währungsunion destabilisieren. Eine stärkere mittelfristige Ausrichtung sollte jedoch schrittweise, aber ehrgeizige Anpassungen ermöglichen. Der Europäischen Kommission kommt als „Hüterin der Verträge“ bei der fiskalischen Überwachung eine wesentliche Rolle zu.

Hierfür braucht sie aber klare Vorgaben und gemeinsam festgelegte und nachvollziehbare Ziele. Dabei müssen wir die richtige Balance zwischen den Befugnissen der Europäischen Kommission einerseits, und denen der Mitgliedstaaten andererseits beibehalten. Die Verträge sehen eine multilaterale Überwachung und damit auch eine wichtige Rolle für die Mitgliedstaaten vor. Dies muss weiterhin gewährleistet sein.

Wir werden uns in den kommenden Wochen und Monaten weiterhin intensiv und konstruktiv mit unseren europäischen Kolleginnen und Kollegen beraten. Unser Ziel ist es, für Europa und seine Bürgerinnen und Bürger ein fiskalisches Regelwerk zu erarbeiten, das beides miteinander verbindet: tragfähige öffentliche Finanzen und Handlungsspielraum, um aktuelle und zukünftige Herausforderungen bewältigen zu können.